Blicke in ihr Leben
1901-1971
Tapfer wie eine Kirschblüte -
Ida Friederike Görres
von Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Friederike Maria Anna, die sich selbst später Ida Friederike nannte, wurde am 2. Dezember 1901 als sechstes Kind des Reichsgrafen und österreichischen Diplomaten Heinrich von Coudenhove (1856 Salzburg – 1906 Ronsperg) und der Japanerin Mitsuko (Maria Thekla) Aoyama (1871 Tokyo – 1941 Mödling/Wien) auf Schloß Ronsperg mitten im Böhmerwald geboren. Ihr Erscheinungsbild spiegelte die doppelte, europäisch-japanische Herkunft deutlich; sie selbst empfand aber auch ihre geistige Herkunft aus zwei so unterschiedlichen Kulturen heftig und nicht selten schmerzlich: „Ob die große Traurigkeit, der unbarmherzige Blick auf die Welt, mein Erbteil aus Asien ist? Es kann schon sein, es ist etwas Uraltes, Urweises, aber als unerlöst Altes und Weises, an dem ich da teilhabe.“
Ihr Vater starb, ihr kaum erinnerlich, bereits mit 50 Jahren; über ihre Mutter schreibt sie in lebenslanger Suche nach „Aufhebung“ des mütterlichen Erbes: „Ach, ihr tieftragisches Schicksal könnte erst ein großer Romancier der nächsten Generation schreiben, so wie die Mitchell ‚Gone with the wind’. Glauben Sie, sie wäre überhaupt gefragt worden, ob sie einen Europäer heiraten wollte, einen Europäer, von dem sie nur wußte, es seien ‚weiße Teufel mit roten Haaren und Fischaugen’? Ihr später, bitterer Kommentar: ‚Es war ärger als der Tod. Aber japanische Mädchen konnten gehorchen.’ Befehl des Vaters, unwidersprechlich.“
In den österreichischen Klosterschulen von Preßbaum (Sacré Coeur) und St. Pölten (Englische Fräulein) herangewachsen, begegnete das junge Mädchen dort erstmals der Kirche in ihrer bergenden, freilich auch starren Form. Erst in der katholischen Jugendbewegung nach 1918, im österreichischen Bund Neuland, dessen gesamtkulturellen und religiösen Erneuerungswillen sie führend mitgestaltete, vertiefte sich dieses Kirchenbild zu unerwarteter Lebendigkeit. Rasch kam sie in Berührung mit der geistigen Mitte des Quickborn, mit Romano Guardini auf Burg Rothenfels am Main. Zeitweise wurde sie zur Mitarbeiterin in der dem „Hochland“vergleichbaren Rothenfelser Zeitschrift „Die Schildgenossen“, woraus auch ihr erstes Buch „Gespräch über die Heiligkeit“ zum Elisabeth-Jubiläum 1931 erwuchs.
Die Begegnung mit der Jugendbewegung entband alle Kräfte von Ida Coudenhove, wenn auch noch nicht zur Reife: „Wer den Rausch des Aufbruchs nicht erlebt hat, soll darüber nicht skeptisch lästern. Er möge sich ähnlicher Ausfahrten erinnern – erster Liebe, erster Abenteuer des Geistes, ersten Entdeckerjubels. Es war eine großartige Sache. Wer, der ihr angehört hat, vermöchte ohne lebenslange Dankbarkeit ihrer zur gedenken! Heute wissen wir zwar, wieweit es Illusion war. Aber eine heroische Illusion, geboren aus einem unbändigen Vertrauen auf die Kraft und Weite des menschlichen Geistes – das alle Grenzen überflog. Der Irrtum bestand darin, daß wir Sehnsucht, Wunschtraum, Postulate verwechselt haben mit Ergebnissen und Wirklichkeit. Daß wir den Aufbruch schon für Eroberung hielten und vorwegnehmend nachhalfen, wo das Bild noch Lücken zeigte. Besonders in dem Letzteren lag die Täuschung.“ Oder: „Was wir als den christlichen Glauben und das katholische Weltbild aufbauten, war sozusagen ein Prachtmodell davon.“
Zwischen 1923 und 1925 weilte Ida Coudenhove als Novizin bei den Maria-Ward-Schwestern in St. Pölten. Das Studium der Staatswissenschaften 1925-1927 in Wien, dann der Sozialwissenschaften 1927-1929 in Freiburg an der Sozialen Frauenschule und 1929-1931 an der dortigen Universität (Geschichte, Kirchengeschichte, Theologie, Philosophie) brachten sie in Berührung mit den handgreiflichen Nöten der Zeit; tätig wurde sie anschließend vom Mai 1932 bis Ostern 1935 als „Diözesansekretärin für die weibliche Jugendpflege“ des Bistums Dresden-Meißen im Sinne eines geistigen Vor-Denkens für die katholische Jugend. Gerade in Dresden war ihre lebendige, ja glühende Art der Gedankenentwicklung schon ausgeprägt: Ihre langen Monologe, denen das Gegenüber oft nur mit Mühe antworten konnte, waren berühmt. In diesen Jahren war auch Erik Peterson ein vielgelesener, geliebter Begleiter.
Als sie dem Berliner Carl-Joseph Görres (1905-1973) in Dresden begegnete, waren manche Kreise über ihre Verlobung im Herbst 1934 und Heirat an Ostern 1935 fast enttäuscht, weil das Idealbild einer „Jungfrau von Orléans“ zerstört schien. Ihr Mann, der sie in seiner Geistigkeit ebenbürtig ergänzte, bereitete ihr durch seine Tätigkeit als Ingenieur und Wirtschaftsberater selbstlos die Möglichkeit, als Schriftstellerin, Dichterin und Theologin tätig zu sein. In rascher Folge entstanden ihre größeren Werke neben vielen Vorträgen und kleinen aktuellen Schriften, die insgesamt um Kirche und Theologie kreisen. „Da ich keine Familie habe“ – eigene Kinder blieben ihr zu großem Leidwesen versagt –, „hat sich eben meine ganze Kraft ... auf die Kirche fixiert.“ Ihre Ehe war von vielen Freundschaften erhellt: zu Gustav Siewerth, Heinrich Kahlefeld, Otto Spülbeck, Werner Becker, Hans Asmussen, Manfred Hörhammer, Werner Bergengruen, Walter Nigg, Reinhold Schneider, Hermann Breucha, Paulus Gordan, Alfons Auer; Romano Guardini hatte sich ihr eigenartigerweise verschlossen, obwohl sie ihn verehrte. Seit Beginn der fünfziger Jahre erfuhr sie – tief erweckend – eine beflügelnde Freundschaft zu Alfons Rosenberg, und ab 1968 schätzte sie den jungen Joseph Ratzinger, damals Theologe in Tübingen.
Das Haus des Ehepaares Görres in Stuttgart-Degerloch, Elsaweg 28, stand auch während des Krieges für Gespräche, sogar für ein zeitweiliges Untertauchen vor den Nationalsozialisten immer offen; zeitweise war darin eine jüdische Bekannte verborgen. Im Kriegswinter 1944/45 war das Ehepaar Gör-res ausquartiert in Kirchheim unter Teck. In der späteren Wahlheimat Freiburg, wo beide neben Mutter Rahner im Altersheim lebten, war Ida Görres freilich durch Krankheit zu solchen Gesprächen kaum noch in der Lage. Zeitweilig erteilte sie auch Konvertitenunterricht, wofür sie eine tiefe Verantwortung empfand.
In diesen Jahren war die Schaffenskraft von Ida Görres erstaunlich. 1943, mitten im Krieg, erschien das große Theresebuch, 1946 der folgenreiche „Brief über die Kirche“ in der Novembernummer der neugegründeten Frankfurter Hefte. 1949 folgten drei Bücher auf einen Schlag, die in den zurückliegenden Jahren gereift waren: Der Gedichtband „Der verborgene Schatz“, ferner: „Nocturnen. Tagebuch und Aufzeichnungen“ und: „Von Ehe und Einsamkeit“, welcher „Wurf“ 1950 noch weitergeführt wurde mit: „Die leibhaftige Kirche“. Diese erstaunliche, ja überbordende Arbeit wird ab Oktober 1950 eingedämmt durch heftige Krankheitsschübe, die Görres auf Jahre hinaus fast nur bettlägerig machen – was freilich die Schaffenskraft nicht völlig unterbricht und von ihr als Läuterung empfunden wird.
Wirft man einen genaueren Blick auf diese fruchtbaren Nachkriegsjahre, so stehen sie unter einem Willen zum Aufbruch über den Ruinen, bei noch unabschätzbar tiefen, nicht verheilten Wunden:
„Auch wir traten damals aus der geheimnisvollen, der unsichtbaren Arche – wie oft haben wir sie so genannt! –, die uns sechs und auch zwölf Jahre im Schwall der steigenden Todesfluten geborgen hatte, in die Trümmer einer Welt, die nicht im Wasser, sondern in Feuer und Blut und Tränen untergegangen ist, in einem Strafgericht, das jener sühnenden Flut aus der Menschheitsfrühe wohl an die Seite gestellt werden darf. Auch wir stehen noch in einer Welt voll Schlamm und Leichen, voll Aas und Grauen im Sichtbaren und im Unsichtbaren, unter dem emsig schmarotzenden Gewimmel all des Dunklen, das sich von Zersetzung nährt und an der Zerstörung gedeiht. Und über uns wölbt sich der gleiche Himmel, der über den letzten und zugleich ersten Menschen einer neuen Schöpfung blaute, und auch ob unsern Häuptern leuchtet der Bogen der Verheißungen Gottes in den Wolken. ... Wir müßten wieder durchstoßen zu den Wurzeln und Grundlagen unseres Daseins, zum anvertrauten und unverfälschten Erbe.“
Noch einmal genauer zu dem berühmt gewordenen „Brief über die Kirche“. Aus drängender Besorgnis um die mangelnde soziale Hilfe vieler kirchlicher Stellen in der schweren Nachkriegszeit entstanden, wurde der Brief bis in die höchsten kirchlichen Spitzen hinein, ja bis zu einer Rüge aus Rom als Zeichen einer grundsätzlichen Respektlosigkeit gedeutet. Ida Görres litt schwer unter diesem Mißverständnis, gerade weil die Kirche ihre tiefe und letzte Liebe war. Am Ende ihrer scharfen Ausführungen heißt es: „... und deshalb lieben wir sie. Nun entschuldigen Sie bitte dieses stammelnde Zeugnis einer Liebe, einer so langen und doch so hilflos gewordenen Liebe. Aber wer kann seiner Liebe Worte geben?“
Das ungute, ja kränkende Echo Ende 1946 auf den Brief zeigte, daß der innere Antrieb, aus dem heraus der Tadel an der Geistlichkeit geschrieben wurde, gründlich mißverstanden wurde. Dabei deutet einiges sachlich darauf hin, daß das Vorbild des großen englischen Theologen Newman unmittelbar mitspielte, seine spannungsreiche, schwer auszubalancierende Haltung von Tadel und Zustimmung – welch letztere die wahre Quelle gerade des Tadels ist:
„Das Wichtigste an den Newmanbriefen ist mir die Einsicht, wie weit ,unser’ Zwiespalt zwischen modernen, irgendwie ,reformistischen’, und ,reaktionären’ Katholiken zurückreicht: tatsächlich volle hundert Jahre. ... Newman ist wirklich ,unser’ Patron, er hat die einzig mögliche, dabei so schwer vollziehbare Haltung, die zugleich klarste, kühlste kritische Einsicht in die tausend Mißstände und Fehlentwicklungen in der Kirche und die absolut unumgängliche Notwendigkeit vieler Reformen – und die leidenschaftliche, den ganzen Menschen ergreifende und durchbebende Hingebung und Loyalität gegen ,Rom’ in der ganzen schweren Belastung dieses Begriffs.“
Eben diese innerste, unerschütterliche Hinneigung zur Kirche ist Ida Görres’ Eigenbesitz, in dem sie sich mit Newman widerspruchslos trifft. Auch im Bestehen der sturmartig einsetzenden, als ungerechtfertigt empfundenen Kritik wirkt ein wunderbarer Reflex auf Newman mit:
„Und ich stand allein auf weiter Flur und das Gewitter der Entrüstung prasselte auf mein vermessenes Haupt nieder ... Für die übrigen (negativen Briefe) nahm ich mir Newman zum Beispiel, der ja auch nie auf Anrempelungen geantwortet hat; halb aus Hochmut, halb aus Indolenz (wie er auch von sich sagt) – und mit ein bißchen guter Absicht dazwischen.“
Trotz dieser soldatisch-tapferen Haltung – zu der Ida Görres ohnehin neigte: „tapfer wie eine Kirschblüte“ – ist es möglich, daß die langanhaltenden Folgen des ominösen „Briefes über die Kirche“ zu ihrer im Herbst 1950 ausbrechenden Krankheit führten. Trotzdem empfand sie diese Zeit als eine Wende zum Guten und als einen neuen Umschmelzungsprozeß: „ ... eine Art Konversion, von meinem bisherigen selbstbeschränkten, selbstzufriedenen und etwas selbstherrlichen Bild der Kirche zu einem immer tieferen Schauen und Begreifen der Kirche selbst ... es ist ein Stück wirklichen Sterbens, ein Teil des Abbröckelns jedes äußeren Hauses, um mit dem himmlischen Bau neu überkleidet zu werden.“ „Wie beginne ich, vertrauend einzuschwingen in das Spiel der großen, undurchsichtigen und wunderbaren Führungen und Fügungen Gottes mit seinen Menschen, zu denen Er ganz gewiß nicht unsere aufgeregte, eifrige Nachhilfe braucht.“ Das Leiden verläßt sie nicht, bessert sich aber so weit, daß sie weiterhin unermüdlich schreiben kann. Das Zweite Vatikanische Konzil erlebte sie zunächst mit freudiger Aufmerksamkeit, später eher mit Bangen und beständig beschäftigt mit den in ihren Augen zweideutigen Folgen. Sie bemühte sich, neuen Aussagen und Formen gegenüber aufgeschlossen zu sein, sah aber mit dem ihr eigenen Instinkt auch Unverzichtbares im Wanken. Ein zeichenhafter Aufsatz aus dem Jahre 1969 lautet „Abbruchkommando in der Kirche“.
Streitpunkte waren ihr, auch in schmerzlicher Mißstimmung mit alten Freunden, der Zölibat, das Frauenamt in der Kirche und die Enzyklika Humanae Vitae, die sie verteidigte, und der Holländische Katechismus, den sie ablehnte. Wo sich die neuere Exegese gegen bisher anerkannte Wahrheiten aussprach – sei es die Existenz des Teufels, die Unfehlbarkeit des Papstes, die Glaubwürdigkeit der Wunder –, antwortete sie gleichermaßen kämpferisch und betroffen. 1969 erhielt sie die Berufung zur Teilnahme an der Würzburger Synode. Nachdem sie von ihren Ärzten die Erlaubnis dazu erhalten hatte, sagte sie nur: „Adsum.“ Die übermäßige Papierarbeit und das mühsame Formulieren von Stellungnahmen übernahm sie klaglos.
Am 15. Mai 1971 nahm Ida Görres auf der Würzburger Synode zu der Vorlage „Gottesdienst und Sakrament“ Stellung und brach unmittelbar danach zusammen. Obwohl kurz vorher von besonderer Frische noch einmal verjüngt, wurde diese Gehirnblutung tödlich: Sie starb am selben Tag im Frankfurter Marienkrankenhaus.
Es war ihre Bitte, in ihrem weißen Kimono und mit einem „weißen Requiem“ auf dem Bergäcker-Friedhof in Freiburg begraben zu werden – weiß als die japanische Farbe der Trauer –; darin drückt sich wohl auch die späte „Versöhnung“ mit der Mutter aus. Joseph Ratzinger sprach im Freiburger Münster am 19. Mai 1971 die Gedenkworte, Walter Nigg hielt die Ansprache auf dem Friedhof. Erzbischof Hermann Schäufele ehrte sie nicht nur durch seine Anwesenheit beim Requiem, sondern indem er am nächsten Tag, an Christi Himmelfahrt, Texte von ihr bei einer Diakonweihe ausführlich zitierte. Auf ihrem Grabstein steht „Cave adsum!“ – „Hüte dich, ich bin da!“ In diesem Wappenspruch des Namensvetters Joseph von Görres (1776-1848) hat sich Ida Görres selbst verstanden. Außerdem sind das Quickborn-Kreuz und der kämpfende, ihrer Geistigkeit so teure Erzengel Michael eingemeißelt.
Ida Görres hat mit seltener Leidenschaft und gleichzeitiger Klarsicht ihre Liebe zur Kirche gelebt, durchdacht, durchlitten. Sie sondiert dabei zwei Wunden, die auch die ihren werden sollten: die Verwundung der Kirche durch die festgefahrene und überlebte Tradition mit ihrem bloßen Schematismus und durch die Verneinungslust vorschneller und übereifriger Revolution. Zu ersterem formuliert sie den genialen Satz Romano Guardinis kongenial weiter: „Es gibt das ‚Erwachen der Kirche in den Seelen’. Es gibt auch das ‚Sterben der Kirche in den Seelen’ ..., das langsame, schleichende, unmerkliche Sterben an Erkältung und Verarmung, an geistlicher Unterernährung und Verhärtung.“ Was die zweite Verwundung betrifft, so fragte sie leidenschaftlich, ob man die Wunden der Kirche aufkratzen und bloßlegen oder sie nicht lieber küssen solle. ...
Ihr Denken kann insgesamt als Ausdruck einer Spannung zwischen zwei Polen gesehen werden: zwischen dem aufmerksamen Horchen auf das Vergangene und dem freimütigen Entbinden der neuen Gestalt der Kirche. Diesen Geburtsvorgang einer so sehnlich erwarteten und so mühsam hervorgebrachten neuen Gestalt verfolgte sie mit besonderer Feinfühligkeit. So besuchte sie in ihren letzten Jahren in Freiburg täglich die Eucharistiefeier, und zwar als Martyrium, im „Aufruhr aller Nerven“ wegen der oberflächlichen Form, nur durchgehalten in der Anspannung auf den „feurigen Kern“. Das Vordergründige und Lieblose des Vollzugs bereitete ihr das eigentliche Leiden, über das sie sprechen mußte, während sie in bezug auf ihre körperlichen Schmerzen von klagloser Tapferkeit war.
Anders wären ihre beiden inspirierenden Pole benannt als Pietät und Revolution. In einem ihrer unveröffentlichten Briefe – längst einer Edition würdig! – bezeichnet sie als „die tiefste Leidenschaft des Japaners die Bindung an das, was war“. Gleichzeitig wußte sie, daß dies eine mehr asiatische denn katholische Haltung sei, und begriff es als eigenste Anforderung, Abstand vom Überkommenen zu nehmen, selbst die Pietät um des glühenden Kerns der Kirche wegen aufzugeben.
„Vielleicht werden schon die Enkel – aus ihrem Generationswiderspruch! – das Zertreten und Verwerfen satt haben und auf große Entdeckungen ausziehen um das, was ihnen heute diffamiert und vorenthalten wird. Sie werden die unsterblichen Lebenskeime des heiligen Erbes auf ihre Weise empfangen und auf ihre Weise, die nicht unsre ist, zu vielfacher Frucht austragen. Ob wir Ältere das erleben, ist wirklich ganz Nebensache.
Uns muß das Wissen genügen, daß die Stadt auf dem Berge noch steht hinter dem Nebel, der sie vielen unsichtbar macht, und daß die Feinde oft nur Kulissen und Scheinbilder zerschlagen können.“
Ihr Wille zur Erneuerung des Glaubens aus dem Innersten brachte sie in den fünfziger Jahren auf die Spur Teilhard de Chardins. In „Sohn der Erde“ (1971) wie sie eines ihrer beiden Teilhard-Bücher nannte, greift sie wie in dem posthumen Werk „Weltfrömmigkeit“ (1975) auf eine künftige Theologie der Schöpfung voraus. Tief zusammenhängend damit fühlte sie sich von der Frage der „Leiblichkeit“ angezogen, vom Irdischen, in das ja – ebenso tief – auch die „leibhaftige Kirche“ eingelassen ist mit ihren Sakramenten, Symbolen und ihrer so störanfälligen Außenseite. Dies war ihr die blutvolle Voraussetzung einer Kirche des Geistes, der ihre Sehnsucht galt. ... Hier liegt ihr tiefes Plädoyer für die Unauflöslichkeit der Ehe, für das leiblich Verbindende und Verbindliche, weil der Mensch „menschlich lieben will, mit Leib und Seele beschenkt und hingegeben und geborgen und behalten sein möchte von einem Menschen, für jetzt und für immer, für alle Fährnisse des Lebens und für das große einsame Abenteuer des Sterbens.“ Wieder in ergänzender Spannung dazu stand ihr Plädoyer für den Zölibat und die freiwillige oder „zugefallene“ Jungfräulichkeit der Frauengeneration nach dem Krieg, wo sie den Sinn der unerfüllten Leiblichkeit um der neuen Schöpfung willen zu beleuchten suchte.
Ihr Charisma war das Geistige, freilich in Form eines Erleidens. „Die Steine der Kirche werden mir mehr und mehr transparent. Sie hören nicht auf, Quader zu sein, sie lösen sich keinesfalls auf, aber sie werden durchsichtig. Manchmal ‚sehe’ ich die Kirche so: als einen ‚gotischen’ Kristallberg, gewaltig aufragend, mit unzähligen Kanten und Facetten funkelnd, vor einem nächtlichen Himmel aufsteigend – aber sie verdeckt ihn nirgends, weil sie kristallen ist, er schiebt sich nicht ‚dazwischen’ – alle Sterne und alle unermeßlichen Weiten schimmern hindurch. Und zur andern Zeiten sehe ich sie eben auch wieder ... wie ein Goya-Bild. Der halbtote, verwüstete, verstümmelte Leib, an einem Pfahl hängend, voll offner Wunden, wildem Fleisch, Schmutz und Verwesung – sie ist so und noch vieles dazu.“
„Keine Mutter als die Kirche – ich bin eine Tochter der Kirche. Und ich habe sie alle (= die Theologen) geliebt und bin ihnen angehangen nicht nur wie eine Tochter und Schwester, sondern wie eine japanische Tochter und Schwester: mit dem ganzen japanischen Pathos der bedingungslosen Pietät und Unterworfenheit. ... Was ich jetzt erlebe, ist echte ,Konversion’. Wie Konvertiten sich trennen oder doch distanzieren müssen vom Elternhaus ihrer Kirche, von Glaubensbrüdern, vom ,Glauben der Väter’ und seinen süßen vertrauten Gewohnheiten und Denkweisen: so wandere ich jetzt, in gewissem Sinn, aus dem Katholizismus zur Kirche, von den Katholiken zum katholischen Christsein, von der kleinen gewohnten Sicht in die weiten, erschreckenden, unfamiliären Horizonte. So werde ich mit fünfzig Jahren endlich, allmählich katholisch.“
Ida Görres’ Denken ist gekennzeichnet vom Aushalten eines „Zwischen“. Von ihrer leiblichen und geistigen Ausstattung her ist sie nicht einhellig, sondern von einem überbordenden Reichtum, dem sie erst eine Mitte schaffen mußte: im Christentum, seiner kirchlichen Gestalt. Vieles, was ihr früher daran transparent war, hatte sich in den letzten Jahren verdunkelt. Und sie selbst wurde in diesem Vorgang aus einem frühen Rampenlicht katholischer Öffentlichkeit in ein Halbdunkel versetzt, worin jüngere Verlagsangestellte nicht einmal mehr ihren Namen richtig schreiben konnten. „ ... ich ‚liege’ nicht mehr im Trend auch der intellektuellen Masse, auch der katholischen, die mich viel früher mal doch sehr stark als einen ihrer Sprecher empfunden hat. Heute bin ich ihr Wider-Sprecher und darum ‚nicht mehr gefragt’.“
In ihrem späteren Tagebuch „Zwischen den Zeiten“ trifft sie sich selbst: „Meine Hauptprobleme, meine zentralen, existentiellen, liegen in Wirklichkeit gar nicht im Intellektuellen, wie meine Bekannten, Fremde und sogar Freunde hartnäckig von mir glauben. Sie liegen seit je im Moralischen, soweit meine Erinnerungen zurückreichen – und auch hier nicht im Theoretischen und Prinzipiellen, sondern im Leben. Den Intellekt habe ich stets nur als Hilfstruppe herbeigerufen, um den unentwirrbaren Dschungel des Lebenmüssens zu durchleuchten, und die Grundsätze, um eine Straße durchzuhauen – der WEG, das war und ist doch der Inbegriff meines Fragens.“ Das vorliegende Werk, noch keineswegs ausgeschöpft, bezeugt ein leidenschaftliches und doch gezügeltes Leben, einen geschmeidigen und blitzenden Intellekt, eine erst jugendbewegt-romantische, dann lautere, leidensgeprüfte Gläubigkeit.
Rund 40 Jahre nach ihrem Tod und 110 Jahre nach ihrem Geburtstag ist sie vom Vergessen eingeholt worden – nicht nur vom „klassischen“ Absinken im Gedächtnis der nächsten Generation, sondern auch bedingt durch den Kulturbruch nach 1968. Nichts schien damals so fern wie ihre Themen: die Kirche, die Heiligen, die Sorge um die Weitergabe der Wahrheit Christi, der „brennenden Fackel“. Ihre Freunde freilich erinnern sich ihrer mit jener Verehrung, die den Nachhall eines tiefen Eindrucks anzeigt.
12.06.2012. Literaturhinweis: I. F. Görres, Gedichte, hg. v. H.-B. Gerl-Falkovitz, Dresden 3. Aufl. 2009; I. F. Görres, Der Geopferte. Ein anderer Blick auf J. H. Newman, Vallendar 3. Aufl. 2011. I. F. Görres, Von Ehe und Einsamkeit, erscheint demnächst in Neuauflage.
Ein ergreifendes Wechselspiel von Gnade und Schwäche
von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Die Tagespost, 22. Juli 2015
Eine auch für die heutige Generation wegweisende Katholikin:
Menschliches und Heiliges im Blick von Ida Friederike Görres (1901–1971)
Seit 2012 liegt wieder ein Buch der früher vielgelesenen Ida Görres vor, und tatsächlich zeigt sich wider Erwarten: Die Autorin zieht an und zieht mit; ihre Einsicht besticht schon auf den ersten Blick.
Das Buch “Von Ehe und von Einsamkeit” war kurz nach dem alle Bindungen zerreissenden Krieg 1949 erschienen und trifft auch heute ins Schwarze, so wie unmittelbar folgend “Die leibhaftige Kirche” (1950). Anders als in seichten “Ratgebern” gibt es keine kurzatmige Anleitung zu “Eheführerschein” oder “Beziehungsarbeit”.
Görres geht vielmehr auf den Grund: den Grund einer verworrenen, widersprüchlichen, “unerlösten” Natur, in der die Geschlechtlichkeit als grosser ungezähmter Motor tätig ist. Lösungen, auf die das tastende Gespräch hinführt, gibt es nur in Prüfung der jahrhundertelangen Erfahrungen der Kirche, der Dichtung, der Literatur. Lösungen kommen aus dem persönlichen Gespräch und Streit mit Gott, aus dem seligen Überraschtsein von seiner Führung.
Wer so blutvoll schreiben kann, lebte selbst lange in “Einsamkeit”. Görres wurde mit dem klangvollen Namen Friederika Maria Anna von Coudenhove am 2. Dezember 1901 als sechstes Kind des österreichischen Diplomaten Dr. jur. und phil. Heinrich Reichsgraf von Coudenhove und der Japanerin Mitsuko Maria Thekla Aoyama auf Schloss Ronsperg mitten im Böhmerwald geboren. Ihr Erscheinungsbild spiegelte die europäisch-japanische Herkunft deutlich; sie selbst empfand auch ihre geistige Herkunft aus zwei so unterschiedlichen Kulturen heftig und nicht selten schmerzlich: “Ob die grosse Traurigkeit, der unbarmherzige Blick auf die Welt, mein Erbteil aus Asien ist? Es ist etwas Uraltes, Urweises, aber als unerlöst Altes und Weises, an dem ich da teilhabe.”
Ihr Vater starb, ihr kaum erinnerlich, bereits mit 50 Jahren; über ihre Mutter schreibt sie: “Ach, ihr tieftragisches Schicksal könnte erst ein grosser Romancier der nächsten Generation schreiben, so wie die Mitchell ‘Gone with the wind’. Glauben Sie, sie wäre überhaupt gefragt worden, ob sie einen Europäer heiraten wollte, einen Europäer, von dem sie nur wusste, es seien ‘weisse Teufel mit roten Haaren und Fischaugen’? Ihr später, bitterer Kommentar: ‘Es war ärger als der Tod. Aber japanische Mädchen konnten gehorchen.’ Befehl des Vaters, unwidersprechlich (…) Meine Mutter mochte von ihren sieben Kindern nur die beiden Ältesten, die noch in Japan geboren waren, und liess uns andere nie im Zweifel darüber (…) Wenn ich Hiesige wegen ‘mangelnder Nestwärme’ klagen höre, muss ich fast lachen. Wir ahnten nicht einmal, dass man sowas vermissen kann.”
In österreichischen Klosterschulen herangewachsen, begegnete das junge Mädchen dort erstmals der Kirche in ihrer starren, aber auch bergenden Form. Erst nach 1918, im jugendbewegten Bund Neuland, dessen religiösen Erneuerungswillen sie führend mitgestaltete, vertiefte sich die Kirche zu unerwarteter Lebendigkeit.
Zwischen 1923 und 1925 weilte die junge Frau (sie hatte den Namen Ida als kindliche Form von Friederike gewählt) vorübergehend als Novizin bei den Maria-Ward-Schwestern im geliebten St. Pölten. Sie studierte Staatswissenschaften 1925–1927 in Wien, dann Sozialwissenschaften 1927– 1929 in Freiburg an der Sozialen Frauenschule, anschliessend (Kirchen-)Geschichte, Theologie, Philosophie 1929–1931 an der dortigen Universität und 1931–1932 in Wien. Vom Mai 1932 bis Ostern 1935 wirkte sie als “Diözesansekretärin für die weibliche Jugendpflege” des Bistums Dresden-Meissen, genauer: als geistige Vor-Denkerin für die katholische Jugend. Gerade in Dresden war ihre lebendige, ja glühende Art der Gedankenentwicklung schon ausgeprägt; ihre Führung begeisterte.
Auf diesen Zeiten äusseren Erfolgs lastete aber zugleich eine tief erlebte Einsamkeit, grundgelegt in “der Kindheit steinernem Gewicht”, einer eigentümlich liebeleeren und elternlosen Erziehung. Diese Einsamkeit wurde überraschend und doch nicht ohne widerstrebendes Ringen gelöst: durch die Werbung eines etwas jüngeren Mannes. Als Ida Coudenhove dem Berliner Carl-Joseph Görres (1905–1973) in Dresden begegnete, waren manche Kreise über ihre Heirat an Ostern 1935 in Leipzig fast enttäuscht, weil das Ideal einer “Jungfrau von Orléans” zerstört schien. Ihr Mann, der sie in seiner Geistigkeit ebenbürtig ergänzte, bereitete ihr als Wirtschaftsberater selbstlos die Möglichkeit, als Schriftstellerin tätig zu sein. In rascher Folge entstanden ihre Werke neben vielen Vorträgen und kleinen aktuellen Schriften, die insgesamt um Kirche und die Heiligen kreisen. “Da ich keine Familie habe” – eigene Kinder blieben ihr zu grossem Leidwesen versagt –, “hat sich eben meine ganze Kraft auf die Kirche fixiert.” Von den 1930er Jahren an war ihre Schaffenskraft erstaunlich. Anfänglich hatte sie über Elisabeth von Thüringen gearbeitet (1931), dann über Maria Ward (1932), Radegundis (1934) und Johanna von Orleans (1935), der eine umfängliche Studie über Therese von Lisieux folgte. “Männliche” Heiligkeit untersuchte sie an Franziskus, Heinrich Seuse, John Henry Newman und Teilhard de Chardin, dem ihre letzte Liebe galt.
Diese erstaunliche, ja überbordende Arbeit wurde ab Oktober 1950 eingedämmt durch heftige Krankheitsschübe, die freilich die Schaffenskraft nicht völlig unterbrachen und als Läuterung empfunden wurden. Mit ausgelöst waren die Lähmungen wohl durch einen sozialkritischen “Brief über die Kirche” (1948), für den sie stark angegriffen wurde.
Das Leiden verliess sie nicht, besserte sich aber so weit, dass sie weiterhin unermüdlich schrieb. Das II. Vatikanische Konzil erlebte sie zunächst mit freudiger Aufmerksamkeit, später eher mit Bangen und beständig beschäftigt mit den in ihren Augen zweideutigen Folgen. Dies werden ihre Briefe an P. Paulus Gordan OSB zeigen, die unter dem fragenden Titel “Wirklich die neue Phönixgestalt?” im be&be Verlag Heiligenkreuz in Bälde erscheinen.
Görres bemühte sich, neuen Aussagen gegenüber aufgeschlossen zu sein, sah aber instinktiv auch Unverzichtbares im Wanken. Ein zeichenhafter Titel lautet “Abbruchkommandos in der Kirche”. 1969 erhielt sie die Berufung zur Würzburger Synode, die das Konzil zeitnah umsetzen wollte. Am 14. Mai 1971 nahm Ida Görres dort zu “Gottesdienst und Sakrament” Stellung und brach unmittelbar danach zusammen. Die Gehirnblutung führte am nächsten Tag im Frankfurter Marienkrankenhaus zum Tod.
Es war Görres’ Bitte, in ihrem weissen Kimono und mit einem “weissen Requiem” auf dem Bergäcker-Friedhof in Freiburg begraben zu werden – weiss als die japanische Farbe der Trauer drückt die späte “Versöhnung” mit der Mutter aus. Der damalige Tübinger Professor Joseph Ratzinger sprach im Freiburger Münster am 19. Mai 1971 die Gedenkworte. Auf ihrem Grabstein stehen neben dem kämpfenden, ihr so teuren Erzengel Michael die Worte “Cave adsum!“ – “Hüte dich, ich bin da!” 1943, mitten im Krieg, sollte Görres’ Meisterwerk über “Das verborgene Antlitz” der kleinen Therese erscheinen; die zweite Auflage trug den Titel “Das Senfkorn von Lisieux”. Der Wurf, der damit gelang, besteht im Ausleuchten der menschlichen Mitgift Thereses. Der zuckrige Mythos, den der Konvent um “die Kleine” aufbaute, die geschönte Glätte der überarbeiteten “Geschichte einer Seele” wichen in Görres’ scharfblickender Milieukenntnis (stammte sie doch selbst aus der Welt der “Öpferchen”, der erbaulichen Poesie und der klösterlichen Mädchenpensionate) – diese kleinbürgerlichen Dekors also wichen dem verborgenen Antlitz Thereses, durch neurotische Züge gefährdet, von der Infantilisierung durch die Schwestern bedroht, der Skrupulosität zeitweise unterlegen, endlich in eine schreckensvolle Glaubensnacht abgestürzt. Und dennoch, so Görres: In der individuell eingeengten und milieubedingt verbogenen Frömmigkeit beginnt Thereses Gesicht zu spiegeln, was göttlich ist.
“O Widerschein von Gottes Herrlichkeit, um eines Menschen Antlitz ausgegossen” – so Görres in einem ihrer sprachschönen Gedichte. Diese “Archäologie” der wirklichen Therese wirkt heute noch atemberaubend. Nichts wird psychologisch verkleinert, gar “erklärt”: Vor dem Erklärlichen, Engen erscheint das Unerklärliche wundervoll aufleuchtend. Reiz (und Trost) liegt darin, dass die Grenze des Menschen offensichtlich keine Schranke bildet für das Göttliche. Das Befremdliche, Unangenehme wird Ansatzstelle für Gnade. Der Kitsch verdunkelt die Schönheit Gottes nicht ernsthaft. Mit der Leidenschaft einer selbst an religiöser Enge Leidenden hat Görres den Kampf zwischen Poesiealbum und Hohem Lied vorgeführt. Das Wechselspiel von Gnade und Schwäche ist ergreifend, ja es wird zur Signatur der Heiligkeit.
Nochmals zur anderen Seite von Görres’ Können, dem lebensklugen Rat. Das erwähnte Buch “Von Ehe und von Einsamkeit” vermittelt gleichermassen eine Ahnung von der scharfen Beobachtungsgabe, der Leidenschaft, der Trauer, dem Eros der grossen Autorin.
Alle Einwände gegen Ehe als “unmögliche Dauerbindung” werden vorgebracht – nichts hat sich seitdem verändert. Aber auch alle Erfahrungen des “unerfüllten” Alleinseins werden – ja, herausgeschleudert, zornig und traurig. Und werden in der Antwort aufgegriffen, behutsam vertieft, in ihrem Anspruch geklärt, in der Übertreibung abgewiesen – bis sich die grossen Möglichkeiten herausschälen, wie Leben in riskanter Balance, aber doch zu bestehen ist: das ganze Leben mit einem anderen Menschen oder das ganze Leben mit vielen Menschen. Beides hat seine je eigenen Lasten, die nicht schönzureden sind, aber ohne Bitterkeit geschultert werden wollen; beides hat seine Erfüllungen, aber auch seine Abstürze. Und trotzdem können sie gemeistert werden. Auch die (Selbst-)Missverständnisse der ersten grossen Liebe werden im vierten Brief behutsam beleuchtet – ein Lehrstück über die menschliche Hingabefähigkeit und die gefahrenreiche Selbsttäuschung in einem. Aber ein Lehrstück, das nicht demütigt. Hier spricht mehr als Gefühl; hier spricht Erfahrung.
Zu hören ist eine Sprache voll Leidenschaft, die ein schlagendes Herz, aber auch einen analytischen Geist spüren lässt: ebenso zuchtvoll wie schöpferisch, ebenso elegant wie kämpferisch. Eine nuancenreiche Sprachkunst verleiht den Ausführungen ihre Deutlichkeit, mehr noch ihre hilfreiche Stärke.
Das Kostbare an diesem Denken ist die Kraft, Gott ins Spiel zu ziehen. Eben nicht als Lückenbüsser und Allheilmittel, sondern als lebendigen Wider-Stand, an dem man sich aufrichten kann. “Stützen kann nur, was widersteht.” Und gerade das erweist sich als hilfreich. Denn wenn man meint, das Ganze müsse auf den “heutigen religionsfernen Menschen” zugeschnitten sein, um ihn auf keinen Fall zu überfordern oder gar herauszufordern, so gilt der kluge Satz von Botho Strauss: “Er braucht nicht abgeholt zu werden, sondern wird angezogen, nähert sich von selbst, wenn jemand von einer etwa zehn Zentimeter höheren Warte zu ihm redet.”
In dem Tagebuch “Zwischen den Zeiten” (1960) zeichnet Ida Görres selbst ihre Fähigkeiten: “Meine Hauptprobleme, meine zentralen, existenziellen, liegen in Wirklichkeit gar nicht im Intellektuellen, wie meine Bekannten, Fremde und sogar Freunde hartnäckig von mir glauben. Sie liegen seit je im Moralischen, soweit meine Erinnerungen zurückreichen – und auch hier nicht im Theoretischen und Prinzipiellen, sondern im Leben. Den Intellekt habe ich stets nur als Hilfstruppe herbeigerufen, um den unentwirrbaren Dschungel des Lebenmüssens zu durchleuchten, und die Grundsätze, um eine Strasse durchzuhauen – der WEG, das war und ist doch der Inbegriff meines Fragens.”
Wie tief kann man ihr glauben, die fähig war zu solchen “Schreien der Liebe und des Schmerzes”. Es wird sich noch erweisen, dass sie mit solcher Sprache, mit solchem Ernst über die Jahrzehnte hinweg das Ohr auch einer heutigen, in der Tiefe verunsicherten und führungslosen Generation erreicht.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
em. Univ.-Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz / em. Univ.-Prof., Dr. phil. habil., Dr. h.c.
Professorin für Philosophie, Europäisches Institut für Philosophie und Religion (EUPHRat) an der Hochschule Heiligenkreuz, Vorstand des EUPHRat